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DAS SAKRAMENT - das Heiligtum oder genauer: Die Heiligtümelei um
die Familie nahm der gebürtige Belgier Hugo Claus
schon 1963 aufs Korn.
Mittelpunkt des alljährlichen Familientreffens sind
die tote Mama und Deedee, der eigentlich gar nicht zur Familie
gehört, aber Deedee war der Priester, der Mama zur letzten
Ruhe geleitete, und bei Deedee ist die von 109 auf 102 Kilo abgespeckte
Natalie als Haushälterin untergekommen, und Natalie liebt den sich
selbst geißelnden Deedee abgöttisch. Die anderen halten Deedee
für blasiert und besserwisserisch und auf keinen Fall
zur Familie gehörend. Da kann er noch so zwanglos in Hawaiihemd
und grünwollener Badehose zweideutige Scharadespiele
vorschlagen.
Einer beginnt mit dem Subjekt, knickt das Papier, gibt das Papier
weiter, der nächste ergänzt das Verb, knickt
das Papier... So ähnlich setzt sich die Sicht der
tragikomischen Ereignisse beginnend bei Natalie, über
die eifersüchtig bewachte Jeanne, über
Antoine, Albert, Lotte bis hin zum unehelichen Sohn
und Neffen Claude fort, um zuletzt wieder die Erzählperspektive
von Natalie einzunehmen, die von Deedee nach dem Selbstmord
Claudes nur noch ein gemeines Schimpfwort erntet.
Eine Pflichtübung hat sich selbst entlarvt
-"natürlich" nur mit Hilfe übermäßigen
Alkoholgenußes- und kann durch nichts
Neues ersetzt werden. Das Ende bleibt offen...
Im DECAMERONE gibt es zumeist eine betrügende und eine betrogene
Seite und außerdem den lachenden Dritten. DAS SAKRAMENT wird
auch grob und derb erzählt, aber der Sexus bleibt in den
Phantasien genauso stecken wie einem das Lachen im Hals. Ob
die geschilderten Situationen und Dialoge tatsächlich so überzogen
sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen, kann
jede/r bei sich selbst nachprüfen. Dieser Roman
ist angesichts der Restauration überkommener
"Wertevorstellungen" innerhalb gewisser Wählerschichten
brandaktuell und erzählt eindringlich, aber ohne erhobenen
Zeigefinger eine Wie-das-Leben-so-spielt-Geschichte. Ein Meisterwerk des
Balanceakts zwischen Wunsch und Wirklichkeit, der Idylle und dem reinen
Wahnsinn.
Weitere Besprechungen zu Werken von Hugo Claus siehe:
Büchernachlese-Extra: Hugo Claus (1929 - 2008)