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"...jede Zeit schneidert sich ihren Sokrates zurecht, streckt hier
und kürzt da, und so haben wir denn ein Spektrum, das vom Propheten
und heiligen Sokrates bis zum Psychopathen und Syphilitiker reicht."
Gernot Böhme begegnet diesem Interpretations-Wirrwarr mit dem
Ansatz einer historischen Anthropologie. Danach können Grundformen
menschlichen Daseins historisch neu auftreten und eine Reorganisation des
anthropologischen Zustandes beiwirken. Um Sokrates gerecht zu werden, muß
man also davon ausgehen, daß der historische Sokrates den "Typ
Sokrates" geschaffen hat.
Was wir von Sokrates wissen, haben wir nicht unmittelbar durch ihn
selbst erfahren. Sokrates selbst hinterließ keine einzige schriftliche
Zeile, und nach heutiger Definition wäre er demnach nicht als Philosoph
zu bezeichnen.
"So setzt beispielsweise Karl Jaspers Sokrates zusammen mit Jesus
und Buddha als die maßgebenden Menschen gegen die großen Philosophen
im eigentlichen Sinne ab."
Demgegenüber wissen wir aber von vier philosophischen Schulen
- der akademischen, der kyrenäischen (Hedoniker), der megarischen(Dialektiker)
und der kynischen - die sich, so unterschiedlich sie in ihrer Ausprägung
auch sind, allesamt auf Sokrates begründen. Es sind deren geistige
Väter Platon, Aristipp, Euklides und Antisthenes, die als seine Schüler
das Wirken und die Existenz Sokrates in ihren Werken bezeugen.
Nach Böhme war Sokrates der Prototyp eines Philosophen, dessen
Philosophie insbesondere in seiner Methodik zu würdigen ist, ausschließlich
im direkten Gespräch wirksam zu werden. Auch Platon "hielt daran
fest, daß Sichunterreden der Vollzug der Philosopie sei, und wollte,
daß Philosophie als Text wenigstens solche Unterredungen zur Darstellung
brächte."
Sokrates ging es um die "Tugend des Gutseins", d.h. um das Ausschöpfen
der Möglichkeiten, von denen man wußte. Böhme belegt nun
sehr gut nachvollziehbar, was zum Verständnis eines solchen Begriffes
wie "Tugend des Gutseins" gehört. Z.B. wenn er schreibt: "Trotzdem
ist es heute nötig darauf zu achten, daß die These, Gutsein
sei Wissen, eine Steigerung männlicher Selbststilisierung entspringt,
die letzten Endes auf eine Kriegerkultur zurückgeht."
Auch jenes berühmtes Wissen nichts zu wissen, wird erst in der
Vielschichtigkeit der Person bzw. des Typen Sokrates begreiflich, wie sie
Böhme uns nahebringt. Hierzu eine Auswahl von Kapitelüberschriften:
SELBSTSORGE, SOKRATES ALS EROTIKER, SOKRATES UND DER TYRANN, ÜBER
IRONIE, SOKRATES UND DAS IRRATIONALE, SOKRATES UND DER TOD.
Für PhilosophInnen und AnthropologInnen, wird dieses Buch sicher
zur Pflichtlektüre, aber auch der Normalsterbliche könnte dieses
Buch mit großem Gewinn lesen, da der Autor nicht nur einen plausiblen
Ansatz gefunden hat, Sokrates näherzukommen, sondern auch mit einer
erfrischend "plausibelmachenden" Sprache zu argumentieren versteht.
Es lohnt sich einmal mehr auf den "maßgebenden Menschen" Sokrates
neugierig zu sein.