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Claire ist Ärztin. Ihre Handtasche samt ihren Haustürschlüsseln
scheint gestohlen worden zu sein. Eine gute Gelegenheit, das Schloß
auszuwechseln und ihrem bisherigem Freund Michel den Laufpaß zu geben.
Die Handtasche findet sich wieder und dazu ein Mann wie Thomas Kovacs.
Er ist Bauunternehmer, verheiratet, zwei Kinder. Es beginnt ein Reigen
eineinviertel Stunden dauernder Abende, nach denen Claire die Packungen
der gebrauchten Präservative sammelt ...
"DIE ANDERE" ist eine extrem
verdichtete Erzählung. Emmanuéle Bernheim scheint ihre Manuskripte
vor Drucklegung noch einmal kräftig auszuwringen, auf daß alles
Überflüssige entweicht. In der dritten Person geschrieben, beharrt
die Erzählperspektive aber wie sonst bei einer ersten Person auf die
Sicht der Protagonistin. Nicht die Frau von Thomas, sondern die Vorstellung
Claires von dieser Frau wird ausgemalt. Nichts wird von außen erläutert
oder gerechtfertigt oder vorausgesetzt. Solange Claire denkt, ihre Handtasche
sei gestohlen, ist sie gestohlen, und erst wenn Thomas sie ihr wieder zukommen
läßt, löst sich auch für die Leser der Irrtum auf.
Diese scheinbar egozentrische Weltsicht, wie sie doch in Wahrheit jeder
pflegt, wird u.a. durch Claires Praxis mit und an den Patienten gebrochen.
Zudem sind Claires sinnliche Wahrnehmungen sehr intensiv und ihre sich
oft bewahrheitenden Vermutungen beweisen, daß sie alles andere als
rein ich-bezogen lebt. Nicht zu vergessen, daß sie es in der Geschichte
ist, die nachweislich auf eine geradezu schmerzlich zurückgenommene
Art liebt. Aber keine Angst, diese paradoxerweise gerade in ihrer Sprödigkeit
einnehmende Geschichte enttäuscht nicht mit einer Nullachtfünfzehn-Auflösung.
Im Gegenteil, sie wartet am Ende sogar mit zwei überraschenden Volten
auf. Warum der Verlag diese preisgekrönte Erzählung mit ihren
etwas mehr als 100 Seiten und einer Typographie für Sehbehinderte
jedoch unbedingt als Roman anpreisen muß, bleibt rätselhaft.