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Der bandwurmlange Titel dieses Buches (DER KAMPF FÜR PERESTROIKA: GLASNOST / DEMOKRATIE / SOZIALISMUS) ist Zeugnis für die falsch verstandene Redlichkeit eines engagierten Verlages. Schade, denn das Buch birgt weitaus
mehr, als das Abspulen von Schlagworten, da die darin versammelten Autoren, in dem Versuch ihr 'Heimatland' und dessen System differenziert zu erörtern, geradezu feinsinnige Literatur geschaffen haben.
Sie geben den Tagesschau-Konsumenten von Katastrophennachrichten u.a. der, von der sich zuspitzenden Nationalitätenkrise zwischen Armenien und Aserbaidschan, im wahrsten Sinne des Wortes Hintergrundinformationen, die eben nicht schon von der immer noch verbreiteten 'Russen-Angst' gefiltert wurden.
Den Antrieb, solche Essays zu verfassen, belegt Juri Afanassjew in seinem Beitrag PERESTROIKA UND HISTORISCHES WISSEN, in dem er Tschaadajew zitiert:
"Ich vermag meine Heimat nicht mit geschlossenen Augen, mit geneigtem Haupt, mit verschlossenem Munde zu lieben. Ich glaube, daß der Mensch seinem Lande nur dann nützlich sein kann, wenn er es klar und deutlich wahrnimmt. Ich denke, daß die Zeit der blinden Liebe vorbei ist, daß wir jetzt unserer Heimat vor allem zur Wahrheit verpflichtet sind." (S.18)
Mit diesen vor 150 Jahren in Rußland geschriebenen Worten leitet J.A. seine Anfragen an die ungenutzten Weichenstellungen der Vergangenheit ein.
Leonid M. Batkin erfaßt mit ERNEUERUNG DER GESCHICHTE die Tragikomik der durch M.S. Gorbatschow ausgelösten neuen Situation: "Jetzt sagt man uns, wir sollten die Perestroika nicht durch Vorauseilen behindern. Gut. Das ist wirklich gefährlich. Aber nicht vorauszueilen ist ja noch gefährlicher.
Wie soll man denn nun zwischen diesen Szylla und Charybidis hindurch schwimmen?" (S.71)
Batkin zeigt auch sehr scharfzüngig auf, was hinter wohlklingenden Leerformeln wie 'Klassenloser Gesellschaft' zu verstehen ist. Vom Bauern bis zum Künstler sind alle gleichrangige Staatsangestellte, nur die Privilegien sind unterschiedlich verteilt. Aber wenn ein Mensch wie Batkin das feststellt, klingt und ist das halt längst nicht so triumphierend platt, wie seinerzeit bei Löwenthal im ZDF-Magazin.
Ales Adamowitsch denkt an die ERINNERUNGEN AN DIE ZUKUNFT, die es nicht geben darf: "Der Winter 1941/42, die furchtbare Schlange vor dem Brotladen. Diese von der grimmigen Hungersnot genauso gepeinigten Menschen schauen einem Mann entsetzt und widerwillig zu, wie er, auf dem Schnee knieend, gelbgrünen Schleim in den Topf scharrt, den er gerade erst erbrochen hatte." (S.141)
Und auf Veröffentlichungen im Sinne der Anti-Perestroika antwortet er: "Wenn es keinen Frieden gibt, dann wird es auch sonst nichts geben. Nicht mal eine einzige Sekunde lang darf man in der Wachsamkeit nachlassen. Wir aber scheinen da nachgelassen zu haben. Der unmittelbare Nutzen solcher Veröffentlichungen(...) besteht darin, daß sie uns gerade noch rechtzeitig wachrütteln können." (S.146)
In DIE UNVERMEIDLICHKEIT DER PERESTROIKA geißelt der wohl bekannteste
Dissident Andrej Sacharow in erster Linie das, was auch den Grundton der anderen Autoren trifft: Den Mangel an Pluralismus in der Machtstruktur und in der Ideologie, der sich in der 'bürokratischen' Schicht des Staats-, Wirtschafts- und Parteiapparates ausgebildet hat. Die Summe dieses Apparates bediene sich seiner Macht noch dazu auf eine Weise, die Sacharow mit einem sehr westlichen Begriff deutet: Korrupt und korrumpierend wie die Mafia.
So skandalös im innenpolitischen Sinne dies ist, umso folgenreicher sieht er dessen Statusquo für die ganze Menschheit. Nur Offenheit und Annäherung (Konvergenz) zwischen den Systemen könne uns alle vor einer Weltkatastrophe bewahren:
"Eine neue Denkweise der Menschheit ist notwendig."
Abgesehen von der Wahl des Titels hat der Greno-Verlag mit der Herausgabe dieses Buches, das die Kostprobe einer weit umfangreicheren Textsammlung dieser und anderer Autoren aus der UdSSR darstellt (ES GIBT KEINE ALTERNATIVE ZU PERESTROIKA: GLASNOST / DEMOKRATIE / SOZIALISMUS), etwas sehr Verdienstvolles geleistet. Offenbar hervorragend übersetzt, lädt es dazu ein, anderen zuzuhören!
Wer nicht nur auf den Schlagabtausch lauert, wird informiert und gefesselt sein von der Selbsteinschätzung dieser Russen und deren Forderungen an die Perestroika. Forderungen und Fragen wie sie z.B. Afanassjew formuliert: "In welchem Maße war Stalin gleichzeitig Schöpfer und Produkt des Systems, das sich während seiner Herrschaft konsolidierte?"
und "Sie (u.a. die Studenten; U.K.) müssen lernen, ihren eigenen Kopf zu gebrauchen, und nicht nur dem Lehrer die Wahrheiten nachsprechen, die andere aufgestellt haben."
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